taz am wochenende sonnabend/sonntag, 12./13. september 2020



Die Kalksteinplatten tragen die Namen von Herkunftsorten der Opfer
Fotos: Tigran Petrosyan


Ein Riss, noch nicht verheilt

In Charlottenburg töteten
armenische Attentäter
Anfang des 20. Jahrhunderts
Hauptverantwortliche des
Genozids in der Türkei. Heute
gibt es dort auf einem Friedhof
einen einzigartigen Gedenkort
für die Völkermordopfer










Drei Begräbnisstätten – für drei Millionen Tote. Auf dem Evangelischen Luisenkirchhof III in Charlottenburg, in der Mitte der Erbbegräbniswand neben prunkvollen Familiengräbern aus Marmor, befindet sich die ökumenische Gedenkstätte für Genozidopfer im Osmanischen Reich. Drei aufgelassene Erbbegräbnisstätten wurden zu „Altären der Erinnerung“ umgewidmet – im Gedenken an ermordete Armenier*innen, Griech*innen und Aramäer*innen. Die mehrsprachigen Kalksteinplatten tragen die Namen der wichtigsten Herkunftsorte der Opfer.

Das ist der einzige Ort weltweit, an dem gemeinsam der Christen gedacht wird, die von 1912 bis 1922 unter den nationalistischen Regimen der Jungtürken und Kemalisten bei Massakern, Todesmärschen oder Zwangsarbeit ums Leben kamen. Mindestens drei Mal im Jahr kommen Vertreter*innen der drei Gemeinschaften hier zusammen – zu den Gedenktagen des Völkermord an den Armenier*innen (24. April), Aramäer*innen (15. Juni) und Griech*innen (14. September). Sie legen Blumen nieder und erinnern sich kollektiv und einzeln ihrer Vorfahren.

Tessa Hofmann ist häufiger hier. Sie ist Mitinitiatorin und Vorstandssprecherin der Fördergemeinschaft für die Gedenkstätte. Die 70-jährige Genozidforscherin hat lange dafür gekämpft, dass ein solcher Ort in Berlin entsteht.

Nach einer internationalen Konferenz zum osmanischen Genozid an armenischen, griechischen und aramäischen Christ*innen an der Technischen Universität Berlin im Jahr 2002 hatte sich in Berlin ein Organisationskomitee aus den betroffenen Gruppen gegründet. Dieses nahm 2008 Kontakt zum Bezirksamt Charlottenburg auf, um im öffentlichen Raum einen Gedenkstein für die Völkermordopfer zu errichten. Es schlug die Gedächtniskirche, den Haupteingang zum Lietzenseepark, einen Standort gegenüber dem Schloss Charlottenburg oder den Mierendorffplatz vor, wo die syrischorthodoxe Mor-Afrem-Kirche steht – alles viel besuchte Plätze im öffentlichen Raum. Doch die Bedenken waren zu groß. „Wie wollen Sie die Gedenkstätte vor Schändungen schützen? So lautete eine Frage an uns“, erzählt Hofmann. „Darauf hatten wir selber keine Antwort. Und wir wollten auf jeden Fall eine Konfrontation und wiederholten Schmerz vermeiden.“

2012 entstand dann die Ökumenische Gedenkstätte auf dem Friedhof, gut geschützt und immerhin in Charlottenburg. Der Bezirk weist zahlreiche Schnittstellen zur osmanischen Geschichte und dem Völkermord der Jungtürken auf. Cemal Azmi war Gouverneur der Provinz Trabzon am Schwarzen Meer. Auf seinen Befehl hin wurden armenische Kinder und Frauen, oft nach Misshandlungen und sexueller Gewalt, ins Meer gestoßen. Azmi war auch für Angriffe auf griechische Dörfer und Deporta-tionen von Griech*innen verantwortlich. Im Oktober 1918 flüchtete er nach Deutschland. Dort wurde er mit Bahaddin Şakir von armenischen Tätern am 17. April 1922 in der Charlottenburger Uhlandstraße erschossen. Şakir gehörte zu einer Sonderorganisation der Jungtürken. Er war für die Planung und Durchführung des Völkermords an der armenischen Bevölkerung zuständig. Auch der damalige

Die Bedenken
gegenüber einer
öffentlichen
Gedenkstätte waren
zunächst groß

Innenminister Mehmed Talat wurde als Hauptorganisator des Genozids in Berlin erschossen – im März 1921 auf der Hardenbergstraße nahe dem Bahnhof Zoo.

Alle drei wurden auf dem Hof der Şehitlik-Moschee in Neukölln begraben, Talats Leichnam wurde jedoch im Zweiten Weltkrieg nach Istanbul überführt. Die Gräber der beiden anderen Genozidtäter blieben in Berlin. Sie wurden 2011 erneuert. „Märtyrerfriedhof“, so nennt sich die Şehitlik-Moschee, die zur staatlichen türkischislamischen Organisation Ditib und deren Gelände dem türkischen Staat gehört. Hier wird an Bahaddin Şakir und Cemal Azmi noch als Märtyrer erinnert.

„Berliner Ambivalenz“, nennt Hofmann das. „Einerseits haben wir hier eine Verehrung der Täter auf exterritorialem Gelände, auf das der Berliner Senat keinen Zugriff hat. Andererseits haben wir im halböffentlichen Raum in Charlottenburg das Andenken an drei Millionen Opfer.“ Für Hofmann ist der Luisenkirchhof auch ein Lernort. Mehr politische Bildung über den Völkermord wünscht sie sich. Sie ist überzeugt, dass nicht der Islam, sondern der Nationalismus türkeistämmige Menschen daran hindert, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

Hofmann weist auf den Riss in der Tafel vor der Gedenkstätte hin. Er symbolisiere die offene Wunde, die sich erst schließen könne, wenn die Türkei den Völkermord offiziell anerkennt. Vielleicht wird er für immer bleiben.

TAZ 12.-13. Sept 2020: Tigran Petrosyan Artikel Ökumenische Gedenkstätte ( 257 KB)